«Die neue Gewaltfreie Kommunikation» — Ein Einblick

Lesezeit: 10 Min.

Im März 2020 habe ich in meinem Blog Tipps zur Gewaltfreien Kommunikation nach Marshall B. Rosenberg veröffentlicht. In der Zwischenzeit habe ich mit grossem Interesse das Buch von Markus Fischer mit dem Titel «Die neue gewaltfreie Kommunikation - Empathie und Eigenverantwortung ohne Selbstzensur» gelesen. Hier möchte ich Ihnen einen Einblick in dieses aufschlussreiche Buch geben.

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In der neuen Gewaltfreien Kommunikation steht vielmehr die Persönlichkeitsentwicklung und die Haltung im Vordergrund und weniger die eigentliche Sprache. So lautet eine der Hauptaussagen in Markus Fischers 210 Seiten umfassenden Buch, erschienen 2020 beim BusinessVillage Verlag. Ohne die Hochachtung vor Rosenbergs Lebenswerk zu verlieren, beschäftigt sich der Pionier der Gewaltfreien Kommunikation in Deutschland also weniger mit der Frage «Wie sagt man etwas gewaltfrei?» als mit der Frage ob die Haltung gewaltfrei ist. «Die neue Gewaltfreie Kommunikation akzeptiert den Menschen in seiner Freiheit, in der Wahl zwischen Richtig und Falsch, zwischen Gut und Böse. Diese Wahl trifft der Mensch auf Grundlage seiner Persönlichkeit und Reife. Es genügt nicht, zu behaupten der Mensch sei gut und mit etwas gewaltfreier Rhetorik würden alle Konflikte und Probleme verschwinden.» so Markus Fischer.

Ähnlich wie im klassischen Modell sind auch in diesem weiterentwickelten Ansatz vier Unterscheidungen zentral. Es sind Unterscheidungen die zur Selbstreflexion anregen und so das eigene Verhalten bewusster machen:

  • Beobachtung vs. Bewertung: Obwohl zwei Personen dieselbe Situation beobachten, bewerten sie diese unterschiedlich, wodurch ein Konflikt entstehen kann. Solche Bewertungen lösen Gefühle aus. Hier ist es wichtig, dass jede Person Verantwortung für ihre eigenen Gefühle übernimmt. Wäre an dieser Stelle vielleicht auch eine andere Bewertung der Situation möglich?

  • Gefühle vs. Pseudogefühle: In der Gewaltfreien Kommunikation werden echte Gefühle von Pseudogefühlen unterschieden. «Traurig» wird beispielsweise als ein echtes Gefühl bezeichnet während «ausgenutzt» ein Pseudogefühl resp. eine Bewertung darstellt. Diese Unterscheidung dient dazu innerlich Klarheit zu gewinnen. «Bei echten Gefühlen liegt der Fokus bei uns selbst und wir übernehmen Verantwortung für unsere Reaktion.»

  • Bedürfnisse vs. Strategien: «Gefühle sind die Kinder der Bedürfnisse» - Ein Zitat von Rosenberg, welches auf die enge Verbindung hinweist. Angenehme Gefühle weisen auf erfüllte und unangenehme Gefühle auf unerfüllte Bedürfnisse hin. Abhängig vom Alter, dem Geschlecht, der Kultur oder sonstigen Umständen unterscheiden sich die Strategien zur Erfüllung von Bedürfnissen. Wenn Sie Ihre Bedürfnisse identifizieren wollen, müssen Sie einen Blick hinter Ihre Strategien werfen und sich reflektieren.

  • Bitten vs. Forderungen: Anstelle zu fordern ist die Formulierung einer konkreten Bitte zur Erfüllung eines Bedürfnisses hilfreicher. Bei einer Forderung bin ich kaum bereit zu verhandeln. Eine Bitte hingegen zeichnet sich dadurch aus, dass ich mit dem Gegenüber in einer ergebnisoffnen Verhandlung bin. Hier kommt es entsprechend stark auf die eigene Haltung an, die sich hinter der Bitte verbergt.

Um sich im Sinne der Gewaltfreien Kommunikation weiterzuentwickeln, müssen wir uns also unserer Gedanken und Gefühlen selbst bewusst werden und Verantwortung für sie übernehmen. Eigenverantwortung und Freiheit in Bezug auf die Erfüllung der eigenen Bedürfnisse sind zentrale Themen in der Gewaltfreien Kommunikation. Sie führen gemäss Markus Fischer zur persönlichen Entwicklung, welche in sechs Stufen verläuft:

  1. Die instinkthafte Stufe: Unsere Bedürfnisse zielen auf das Überleben, den Schutz und die Geborgenheit ab. Säuglinge und kleine Kinder glauben die Welt um sich herum so gestalten zu können, dass sie ihren Bedürfnissen entsprechen.

  2. Die egozentrische Stufe: In dieser Phase entwickeln sich Kinder zu einer eigenständigen Person mit einem Ich respektive einem Ego. Ein stabiles Selbstwertgefühl und ein gesundes Selbstvertrauen sind hier das Resultat, wenn die Bedürfnisse nach Aufmerksamkeit, Zuspruch und Hilfe erfüllt werden.

  3. Die konformistische Stufe: Pubertierende Jugendliche möchten in dieser Phase zu einer Gemeinschaft gehören. Regeln und Normen werden hier eingehalten, um nicht die Zugehörigkeit zu verlieren. Veränderungen können hier bis ins Erwachsenenalter für Angst sorgen.

  4. Die rationale Stufe: Ebenfalls in der Pubertät startet die rationale Phase. Soziale Normen die in der konformistischen Phase gelernt wurden, werden hinterfragt und die Welt wird rational und kritisch betrachtet. Ordnung und Struktur sowie das Verstehen sind typische daraus resultierende Bedürfnisse.

  5. Die pluralistische Stufe: Als Erwachsene beginnen wir zu verstehen, dass die Wahrheit unserer eigenen Konstruktion der Wahrnehmung und unserem Verstand entspringt. Subjektivität, Toleranz, Gleichheit und Gleichberechtigung sind stark ausgeprägte Werte im Pluralismus.

  6. Die integrale Stufe: In der letzten Phase erkennen wir, dass jede der vorhergehenden Phasen mit ihren Eigenschaften sowie Ecken und Kanten wichtig sind für die persönliche Entwicklung. Wir beschäftigen uns zum ersten Mal nicht nur mit uns selbst, sondern können mit einem Rundum-Blick Vor- und Nachteile der Entwicklungsphasen nüchtern analysieren, bewerten und für die eigene persönliche Entwicklung Schlüsse ziehen.

Ein gesunder Erwachsener trägt alle Entwicklungsstufen in sich, jedoch liegt bei jedem der Schwerpunkt auf einer bis zwei Stufen. Diese Fokussierung beeinflusst unser Verhalten und kann beispielsweise dafür sorgen, dass pubertierende Jugendliche auf rationaler Stufe, nicht gut mit Gefühlen umgehen können.

Damit die Gewaltfreie Kommunikation zu einer Haltung und als mehr als ein rhetorisches Werkzeug verwendet werden kann, ist das Erreichen der integralen Stufe hilfreich. Doch wie gelangen wir auf diese Stufe?

Die Antwort liegt im Begriff der Transformation. Sie ist die Weiterentwicklung über die Ebenen hinweg, hin zu mehr Mitgefühl, mehr Humanität, mehr Liebe und weiteren Perspektiven. Diese Entwicklung kann auch als Erwachsenwerden oder Reiferwerden bezeichnet werden und sie ist meist ein lebenslanger Weg. Die Entwicklungsforschung bezeichnet darüber hinaus zwei weitere Entwicklungsrichtungen. Die Translation und die Regression. Ersteres meint das Wachstum und die Weiterentwicklung auf derselben Stufe also das besser werden. Die Regression ist die zeitweise oder dauerhafte Rückenwicklung auf eine frühere Ebene.

Um sich selbst erfolgreich weiterzuentwickeln (Transformation) muss gelehrt sein, zu sich selbst und den eigenen Bedürfnissen Distanz zu halten und Objektivität zu gewinnen. Wichtig ist, nicht andere für die eigenen Gefühle verantwortlich zu machen, sondern die Ursachen in der eigenen Lebensgeschichte zu suchen. Situationen in der eigenen Biographie, in welchen wir unerfüllte Bedürfnisse, gekränkte Gefühle bis hin zu psychischen Traumata erlebt haben, sind Emphatielücken, die meist unterhalb der eigenen Bewusstseinsschwelle liegen. Um diese bewusst zu machen, die Ursachen hinter der eigenen Reaktionen zu finden und sich selbst gegenüber emphatisch zu sein, beschreibt Markus Fischer in seinem Buch acht Schritte:

1. Schritt: Die Situation
Notieren Sie sich in zwei oder drei Sätzen eine Situation, in welcher Sie sich über eine Person geärgert oder Sie sich verletzt gefühlt haben.

2. Schritt: Gedanken und Bewertungen
Notiere Sie unzensiert alle Gedanken und Bewertungen auf, die Sie dem Gegenüber haben.

3. Schritt: Ihre Gefühle
Schreiben Sie alle Gefühle auf, die Sie bei sich wahrgenommen haben und trennen Sie dabei Gedanken von den Gefühlen. Notieren Sie sich neue Gedanken oder Bewertungen, die jetzt aufkommen beim Schritt 2. Führen Sie diesen Schritt solange durch, bis Sie eine gewisse Entspannung wahrnehmen und Sie den Eindruck haben, das Wichtigste ist nun notiert.

4. Schritt: Beobachtungen
Notieren Sie, was Sie in der Situation beobachtet haben. Was wurde gesagt oder getan?

5. Schritt: Bedürfnisse
Gehen Sie alle Gedanken und Bewertungen nochmals durch und schreiben Sie sich auf, welche Bedürfnisse in dieser Situation nicht erfüllt wurden.

6. Schritt: Noch einmal Gefühle und Bedürfnisse
Lesen Sie die Gefühle (Schritt 3) noch einmal durch und fragen Sie sich «Welche Bedürfnisse drückt mein Gefühl X aus? Was hätte mein Gefühl X gebraucht?» Notieren Sie sich auch diese Bedürfnisse.

7. Schritt: Und noch einmal Bedürfnisse
Fragen Sie sich, wenn alle Ihre notierten Bedürfnisse jetzt erfüllt wären: Wie würden Sie sich dann fühlen?

8. Schritt: Biographie
Schauen Sie auf Ihre eigene Lebensgeschichte und überlegen Sie sich, ob Sie schon ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Mit welchem Typ Menschen ging es und geht es Ihnen immer wieder so? Erkennen Sie vielleicht ein Muster?

Sollten nun weitere Erinnerungen aufkommen, können dies wichtige Hinweise für sogenannte Empathielücken sein. Selbstreflexion und Selbstempathie bedeutet also Eintauchen in die eigene Geschichte. «Dieses Erforschen der eigenen Geschichte kann dabei entlastend sein, weil man endlich einmal Raum bekommt, die eigene Erfahrungen in einem sicheren und wertschätzenden Rahmen zu erzählen.» Andererseits können diese Erfahrungen auch belastend oder beängstigend sein. Hier empfiehlt sich eine professionelle therapeutische Begleitung.

fazit

Mit der (neuen) Gewaltfreien Kommunikation verbessern Sie Ihre Selbstreflexion und Ihre empathischen Fähigkeiten. Dabei helfen Sie nicht nur sich selbst, sondern können durch Ihr emphatisches, respektvolles und eigenverantwortliches Handeln auch andere unterstützen. Dass dabei das Wissen rund um die Persönlichkeitsentwicklung und die eigene Haltung eine zentrale Rolle spielt, leuchtet mir ein. Das im Buch beschriebene Hintergrundwissen aus der Entwicklungsforschung sowie die vielen praxisorientierten Tipps inklusive den Anleitungen, helfen aus meiner Sicht, die Gewaltfreie Kommunikation auf ein nächstes Level zu bringen. Ich empfehle das Buch all jenen, die das Konzept der Gewaltfreien Kommunikation festigen wollen und sich weiter darin vertiefen möchten.

Ben Hughes

Quellen:

Markus Fischer (2020), Die neue Gewaltfreie Kommunikation - Empathie und Eigenverantwortung ohne Selbstzensur (BusinessVillage GmbH)

getAbstract (2020), Markus Fischer, Die neue Gewaltfreie Kommunikation - Empathie und Eigenverantwortung ohne Selbstzensur (Business Village GmbH) - http://getab.li/10xu


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